Viele Mütter sind häufig die wahren Leistungsträgerinnen im Alltag einer Familie. Wer als Mutter berufstätig ist, hat gute Gründe. Wer nicht berufstätig sein kann oder will, kann ebenfalls gleichberechtigt und auf Augenhöhe über seine Beweggründe sprechen.....
Meine Mutter ist für mich ein Beispiel, wie man auf leisen Sohlen über viele Jahre ein sinnvolles und glückliches Leben führen kann. Ein Jahr nach der Goldenen Hochzeit meiner Eltern starb mein Vater im Alter von 75 Jahren. Meine heute 87jährige Mutter hat sechs Kinder, drei Jungen und drei Mädchen. Ich bin der Zweitälteste und frage sie neugierig: „Du warst so lange mit Vater verheiratet und hast viele Erfahrungen gesammelt. Hast du Tipps für andere, die auch glücklich sein wollen?“ Meine Mutter sitzt in ihrem Lieblingssessel im Wohnzimmer ihres Hauses. Über dem gegenüberliegenden Sofa, auf dem ich sitze und mir während des Gespräches Notizen mache, hängt ein Ölgemälde, das einen Tannenwald mit einem steinigen Weg sowie im Hintergrund Berge zeigt. Mit ihren grünen Augen schaut sie mich erstaunt an, blickt in meine braunen Augen (die Augenfarbe meines Vaters) und lächelt: „Jeder sammelt seine eigenen Erfahrungen. Das ist das Spannende im Leben. Aber natürlich gibt es Steine auf dem Weg, die zu jeder Zeit ein Problem darstellen können.“ Und sie berichtet von ihrem Lehrer, der während ihrer Schulzeit die Weisheit zu vermitteln versuchte „Trau! schau! wem?“ Für Mutter bedeutet dies: „Schenk jedem einen begründeten Vertrauensvorschuss, aber bleib stets kritisch.“ Und damit meint sie auch „selbstkritisch“, denn kein Mensch ist perfekt und jeder kann sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln. Natürlich schließt ein „kritisches Vertrauen“ auch Neuanfänge ein. Denn „wie soll sich ein Mensch sonst entwickeln können?!“ Was Mutter und ich bei diesem Gespräch (noch) nicht wissen, erfahre ich später bei meinen Recherchen: „Trau! Schau! wem?“ ist der Titel eines Flugblattes gewesen, das sich gegen die Verleumdung der Sozialdemokratie gewendet hat und von Gustav Kittler, Schreiner und Politiker, 1878 verfasst worden ist. Auch hat der deutsche Hochschullehrer August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798 bis 1874), der vor allem durch das „Lied der Deutschen“ bekannt wurde, ein Gedicht „Traue! schaue wem?“ mit folgender Strophe verfasst: „Die Winde sprach zur Fliege: O komm zu mir ins Haus! Es ist bei mir gut wohnen, Komm, schlaf und ruh dich aus.“ Man sollte wohl niemandem auf den Leim gehen. Denn sonst folgt nach süßen Verlockungen die böse Überraschung auf dem Fuße. Und man wundert sich nicht, dass Menschen, auch wenn sie keine Fliegen sind, dennoch am nächsten Morgen das unbekannte Haus nur mit Schwierigkeiten, einem schweren Kopf oder einem schlechten Gewissen und überflüssigem Ärger verlassen können. Mutter hat noch eine weitere Botschaft, die ihr selbst wichtig ist. Am Tag des „Interviews“, am 6. Mai 2017, sagt sie, lautet der Lehrtext in den „Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine. Gottes Wort für jeden Tag“: „Alle eure Sorge werft auf ihn; Denn er sorgt für euch.“ (1. Petrus 5,7) Was meint sie damit? Die Sorgen einfach entsorgen? Wie man einen Mantel ausziehen, an eine Gardrobe hängen, in die Ecke oder in den Altkleidercontainer werfen kann? Das wäre zu einfach, meint Mutter. „Es funktioniert auch nicht, über den Sorgenmantel nur zu sprechen und zu denken „Gott wird es schon richten.“ Zu Gott beten, darauf kommt es an. Nicht nur über ihn, sondern mit ihm sprechen.“ Und dann erzählt sie vom Abendgebet, das sie und mein Vater mit uns Kindern gesprochen haben. Von den Tischgebeten, um vor allem Gott für das nicht Selbstverständliche zu danken. Von den gemeinsamen Gebeten in den sonntäglichen Gottesdiensten, zu denen Vater mit seinen nicht immer ausgeschlafenen Kindern ging, während Mutter das Sonntagsessen vorbereitete, „um Gott, nicht dem Pastor oder der Kirche, die Ehre zu geben“. Denn ein Gebet im stillen Kämmerlein, aber auch in der Gemeinschaft könne ruhiger machen und den Sorgen die Schärfe nehmen. Denn wer mit Gottes Hilfe rechne, sei nie allein unterwegs. Der werde gelassener und froher. Und gab es besondere Erfahrungen in der Familie? Ihre Augen leuchten, als sie nicht von der „guten alten Zeit“, wohl aber von den Anfängen der Familiengeschichte in der damaligen Zeit berichtet. Denn sie weiß: „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde.“ (Prediger 8.6) Sie gerät nicht ins Schwärmen, was auch nicht zu ihrem realistischen Scharfsinn gepasst hätte, als sie nüchtern von der besonderen Familientradition, die von meinen Eltern, Kinder der Minden-Ravensberger Frömmigkeit, geprägt wurde, berichtet: Von der Sonntagskultur mit dem Sonntagsgottesdienst („Vertiefung des Glaubens in Gemeinschaft“), dem Sonntagsausflug („Kennenlernen der Heimat und Festigung der Familienbande“), den Sonntagsbesuchen („Austausch in der Gemeinschaft mit den Großeltern, der Tante und dem Onkel“), aber mit der Sonntagskleidung („in Anzügen mit weißem Hemden“) und dem Sonntagsessen („Das Frühstücksei, der Sonntagsbraten, vor allem die westfälische Suppe.“), Von der familiären Förder- und Forderungskultur mit der Schulbildung („jedes Kind lernte durch Diktate, durch Abfragen der Vokabeln, die ich gleich mitlernte“), der Musikförderung („vor allem Vater, der selbst gerne klassische Musik hörte, wollte, dass jedes Kind ein Instrument lernt; ihr wurdet dadurch auch freier“), der Gesprächskultur („selbst bei Tisch wurde lebhaft diskutiert, Bedürfnisse, Erlebnisse und Konflikte wurden nicht einfach totgeschwiegen“), der Entlastung von der Hausarbeit („ihr Kinder solltet euch auf die Schule konzentrieren können“), und der religiösen Erziehung („wichtig war deinem Vater und mir, dass ihr Geschwister euch auch vergeben könnt, keine Rechthaber werdet, kompromissbereit seid, euch gegenseitig unterstützt, auch geben und abgeben könnt, weil wir alle von Gottes Barmherzigkeit leben“). Aber was bleibt für die heutige Zeit? „Vielleicht“, und sie macht eine kurze Pause, denkt nach und sagt dann, „bleibt es in einer Ehe und dann auch in einer Familie wichtig, miteinander zu sprechen, Interesse am Leben des anderen zu haben und an seinem Leben Anteil zu nehmen.“ Reden – und ihre Stimme wird bewegter – ist kein „Gerede“ und auch keine „Zeitverschwendung“, sondern die Grundlage des gegenseitigen Vertrauens. Und dann wird ihre Stimme etwas schneller, als wenn sie Sorge hätte, noch ein Herzensanliegen zu vergessen. „Die Kinder sollten auch in Zukunft ihre Herkunftsfamilien nicht vergessen“. Nicht unbedingt aus Dankbarkeit oder aus moralischen Überlegungen, wohl aber wegen „der Freude des Wiedersehens und der Gemeinschaft.“ Denn wer seine Wurzeln nicht abschneide, sondern sie pflege, bleibe verwurzelt und könne sich und andere besser annehmen, auch die Stürme im Leben leichter ertragen. Und vor allem besser entwickeln. „Die Kinder müssten ja nicht alles als toll empfunden haben, aber nur wenn man seine Augenfarbe akzeptiere, könne man mit den Augen besser verstehen und sehen lernen“. Mutter wäre nicht Mutter, wenn daneben nicht auch ihre liebenswürdige und souveräne Persönlichkeit aufleuchten würde, die es sich leisten kann, unabhängig vom Urteil anderer ihre Erfahrungen und Wünsche diplomatisch-direkt ins Gespräch zu bringen. Ein gelebtes Vorbild, das - wie ihr Mann und mein Vater – aus uns Kindern nie Kopien von ihnen selbst machen wollten, sondern selbstständige und unabhängige Originale mit der Verwurzelung in Familie und Glauben, die ihren eigenen, aber bewussten und verantwortbaren Weg suchen und finden sollen. Und vielleicht gehört auch das zum Geheimnis des Glücks von Menschen, die Vergangenheit zu achten, damit sie den Weg in die Zukunft „glücklicher“ gehen können. Burkhard Budde